Die Lesende
(1906)


Ernst Stöhr (*1865, †1917)

Landessammlungen Niederösterreich

Neben dem Mistelbacher Wilhelm Bernatzik und dem aus Waidhofen an der Ybbs stammenden Ferdinand Andri war Ernst Stöhr als gebürtiger St. Pöltner wohl der wichtigste Niederösterreicher im Kreise der Secessionisten, darüber hinaus ein Gründungsmitglied der Wiener Secession. Als Maler war Stöhr ein Hauptvertreter des österreichischen Symbolismus.
1906 malte Stöhr den Halbakt eines lesenden Mädchens. Mit nacktem Oberkörper, das tiefblaue Kleid bis zu den Hüften abgestreift, sitzt sie über ein Buch gebeugt. Meisterlich fing Stöhr den blassen bläulichen Schimmer der Haut seines Modells ein. Durch die Bäume im Hintergrund erblickt man ein Gewässer, vielleicht den Wocheiner See in Slowenien, an dem sich Stöhr im Jahre 1900 ein eigenes kleines Ateliergebäude hatte errichten lassen. Die Lesende ist zwar keines seiner berühmten Nachtbilder, doch bringt es ebenfalls deutlich Stöhrs Grundstimmung zum Ausdruck, der nichts Unbeschwertes oder gar Fröhliches anhaftete. Seine schwache Gesundheit, immer häufigere Depressionen und Aufenthalte in Nervenheilanstalten, der Tod seines Onkels und seiner Eltern, die er lange aufopferungsvoll pflegte, und schließlich die Verzweiflung über den Weltkrieg führten dazu, dass er 1917 Selbstmord beging.
Stöhr war seiner Heimatstadt St. Pölten zeitlebens verbunden. Neben dem künstlerischen Nachlass, den das Stadtmuseum 1941 erwarb, befindet sich in der Stadt auch ein frühes Hauptwerk, das aus dem Stadtbild nicht mehr wegzudenken ist, nämlich die Darstellung der Medizin als Mörtelschnitt an der Fassade des Olbrich-Hauses in der Kremser Gasse. Josef Maria Olbrich hatte das Wohnhaus 1898 im Auftrag von Stöhrs Bruder, einem Arzt, ausgeführt und für den künstlerischen Dekor Ernst Stöhr herangezogen.
(Quelle: W. Krug, in: Waldmüller bis Schiele, Meisterwerke aus dem NÖ Landesmuseum, 2002, S. 164)