Die Erinnerung, die dich heimsucht.
20.000 BewohnerInnen von St. Pölten fanden im Laufe eines Jahres eine Ansichtskarte in ihrem Postkasten vor, handgeschrieben und an sie persönlich adressiert. Bei den fotografischen Ansichten von vordergründig unscheinbaren Motiven handelte es sich um jene Orte im St. Pöltner Stadtteil Viehofen, die im Zweiten Weltkrieg Schauplätze nationalsozialistischer Ausbeutung und Vernichtung waren: das in den Sechzigerjahren einem Schotterteich gewichene Lager für ungarisch-jüdische ZwangsarbeiterInnen, das südlich davon gelegene Zwangsarbeiterlager der Glanzstoffwerke und das Massengrab auf dem städtischen Friedhof St. Pölten. Die Fotografien zeigten jedoch nicht das historische Gedächtnis dieser Orte, sondern ihr erfolgreiches Verdrängen und Vergessen. Mit blauer Tinte war auf jede Karte von Hand der Satz geschrieben: "Ich bin gesund, es geht mir gut" - jene Floskel, die auf keiner Postsendung aus den Lagern des Dritten Reiches fehlen durfte. Die persönlich Adressierten standen in Kontrast zum namenlos bleibenden Absender, der Einzelne erhielt gleichsam ein Mahnschreiben von der Unzahl jener, die diesen heuchlerischen Satz in ihre Briefe setzen mussten. Ausgehend von der bildspeichernden Gedächtnisfunktion der Fotografie hat Tatiana Lecomte ein Mahnmal fernab von tradierten Formen der Denkmalkultur entwickelt. Sie konstruierte eine fiktive Kommunikationsebene zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem und zerriss den Schleier von historischer Distanz und fehlender Zeitzeugenschaft in der Absicht, Gespräche und Diskussionen anzuregen. Das Mahnmal wurde buchstäblich zur Erinnerung, die dich heimsucht.
(Verena Gamper)
Aus: Öffentliche Kunst, Kunst im öffentlichen Raum Niederösterreich 10 (2011)