Sagen zu den "Hasen von St. Michael"
Die Hasen von St. Michael
"Auf einem in die Donau vorspringenden Felsen steht die Kirche von St. Michael, die Mutterkirche der Wachau. Ist ein gar wonnesamer Anblick für den Reisenden, der auf schnellem Schiffe mit der Wunderkraft des Dampfes den gewaltigen Strom befährt: im Sonnenglast des Sommers die uralte Kirche und der massige, mit Mauerzinnen bewehrte Turm, der Fenster kunstvoll gotische Zierat, der Karner mit dem Riesenbildnis des Wasserschutzherrn St. Christoph, den österreichischen Herzogshut auf dem Haupte, zerbröckelndes Gestein der Ringmauer und dazwischen ein lieblich Gärtlein voll des frischesten Grüns und farbenkräftigen Blumenflors.
Knapp hinter der Kirche, nur der Straße und einer Häuserzeile Raum gebend, hebt sich der Atzberg, in neuer Zeit von der ihren Weg mit Gewalt suchenden Bahn durchbrochen. Strenge Winter sind in der Wachau selten, gedeiht ja an ihren Hängen die Freundin der Wärme, die köstliche Rebe. Einmal aber stellte sich auch hier der Winter mit solchen Schneemassen ein, daß die Häuser von St. Michael von ihnen bedeckt und der Raum zwischen Kirche und Atzberg vollständig ausgefüllt wurde und die Hasen, im Hunger umherirrend, auf das Kirchendach und darüber hinaus liefen.
Die Erinnerung an jenen argen Winter und der Hasen ungewöhnlichen Weg hielt man durch Tierfiguren auf dem Firste des Chores der Kirche fest. Leider behaupten Tierkenner mit guten Augen oder guten Gläsern, es sei auch nicht ein einziger Hase darunter. Aber ... das macht nichts, deswegen erzählt sich das Volk in zähem Festhalten an der alten Sage doch allfort die Geschichte von den Hasen und dem so überaus schneereichen Winter."
(Quelle: Wachausagen, Erzählt und allen Freunden der goldenen Wachau gewidmet von Josef Wichner, Krems [1920], S. 62f.)
Die sieben Hasen oder Rößln von St. Michael
"In der Wachau war einstmals ein so strenger Winter, daß der Schnee sich bis über die Kirche von St. Michael hinauf angehäuft hat. Die Hasen sind damals über das Kirchendach hinweggelaufen. Da schmolz aber plötzlich der Schnee ab und sieben Hasen konnten nicht mehr herab. Darum sitzen sie heute noch auf dem Dachfirst.
So deutet das Volk die Tiergestalten auf dem vorderen Teile des Gotteshauses. Weil diese aber eigentlich Pferde und Hirschen darstellen, so sagt man auch, dieser merkwürdig Dachschmuck sei zur Erinnerung an einen Herrn "Siebenrößl" von St. Michael angebracht worden, welcher sich um den Kirchenbau besondere Verdienste erworben hätte.
Eine dritte Deutung geht dahin, die Kirche sei schon so alt, daß man zu ihrer Erbauungszeit das Schreiben noch recht selten verstand. Um aber doch den Namen des Baumeisters "Siebenrößl" der Nachwelt zu überliefern, habe er selbst sieben Rößlein auf dem Dache anbringen lassen. Der Erbauer sei samt Frau und Tochter auch in den drei Steinknöpfen verewigt, welche an der Donauseite oben aus den Kirchenmauern herausragen. Und die drei Mumien, welche sich im Beinhause unter der Friedhofkapelle bei der Kirche befinden, werden als die Leichname der Famitie Siebenrößl angesehen."
(Quelle: Hans Plöckinger, Sagen der Wachau, Krems 1926, Nr. 47, S. 57f.)