Der Weg zur Landeshauptstadt
Am 15. Februar 1984 stellte Landeshauptmann Siegfried Ludwig die Frage einer eigenen Landeshauptstadt für Niederösterreich zur Diskussion und gab die Einsetzung einer Projektgruppe bekannt, die dies innerhalb eines Jahres prüfen sollte. Damit regte er gezielt eine Diskussion wieder an, die es innerhalb der letzten 63 Jahre immer wieder gegeben hatte.
Schon 1921 wurde bei den Trennungsverhandlungen die Frage nach einer eigenen Landeshauptstadt diskutiert und in diesem Zusammenhang die Zukunft des Landhauses für jeden Eventualfall festgelegt. Bei einer Verlegung des Landtags aus Wien sollte das Landhaus gemeinsames Eigentum von Wien und Niederösterreich werden, wobei Wien das Vorkaufsrecht auf die niederösterreichische Haushälfte hätte. Darüber hinaus sicherte sich Niederösterreich mit dem Trennungsgesetz die Berechtigung, Landtag und Landesregierung in Wien zu belassen. In der Folgezeit wurde der Wunsch nach einer eigenen Landeshauptstadt vor allem von Orten vorgebracht, die selbst gern diese Funktion übernommen hätten. Die Politiker dachten nicht an diese Lösung, obwohl die finanzielle Lage des Landes ohne Hauptstadt schwieriger als angenommen war. Unter den Nationalsozialisten wurde zwar im "Ostmarkgesetz" von 1939 Krems zur Gauhauptstadt von "Niederdonau" und damit zum politischen Mittelpunkt des Landes gemacht, die Verwaltung blieb aber in Wien, da der Krieg eine Übersiedlung und die notwendige Bautätigkeit unmöglich machte.
In den folgenden Jahren kam es immer wieder zu Diskussionen über die Vorteile einer Verlegung der Landesregierung und Landesverwaltung. Am stärksten trat der Landtagsabgeordnete und St. Pöltner Bürgermeister Wilhelm Steingötter dafür ein. Bei der Budgetdebatte des Jahres 1954 wurde vom Finanzreferenten Landesrat Viktor Müllner die Summe von 600 Millionen Schilling genannt, die dem Land Niederösterreich zugunsten Wiens verloren gehen würde. Auf diese Weise wollte man sich, wenn auch erfolglos, einen Vorzugsanteil Niederösterreichs im Finanzausgleich sichern. 1955 ließ die niederösterreichische Landesregierung von einer Arbeitsgemeinschaft für Raumforschung und Raumplanung die Zweckmäßigkeit einer Verlegung nach Klosterneuburg oder Mödling prüfen, allerdings sollte nur ein Verwaltungs- und Kulturzentrum geschaffen werden, nicht eine Landeshauptstadt. Damals wurde die Idee eines Landesschwerpunkts im Raum St. Pölten-Krems entwickelt, eine Verlegung der Landesverwaltung hielt man aber für unmöglich.
Beim Landesparteitag der ÖVP Niederösterreich in Tulln am 6. Dezember 1970 wurde die Landeshauptstadtfrage erneut diskutiert, auch ließ Landeshauptmann Andreas Maurer vom Österreichischen Institut für Raumplanung bis 1974 eine wissenschaftliche Untersuchung durchführen, die Frage einer eigenen Landeshauptstadt blieb aber unbeantwortet. Das Problem wurde zurückgestellt und die Position der Landesregierung in Wien mit dem Ankauf eines großen Verwaltungsgebäudes in der Wiener Operngasse im Jahr 1978 gestärkt.
Anknüpfend an die Studie des Instituts für Raumplanung, griff Siegfried Ludwig zehn Jahre später die Diskussion wieder auf. Die Volksbefragung am 2. März 1986 ergab 56 Ja-Stimmen und 44 Nein-Stimmen bei 61,3 % Wahlbeteiligung. Von den positiven Stimmen entfielen 44,6 % für St. Pölten, 29,3 % für Krems, 8,2 % für Baden, 5,3 % für Tulln und 4,1 % für Wiener Neustadt. Am 10. Juli 1986 wurde durch Änderung des Artikels 5 der Landesverfassung St. Pölten zur Landeshauptstadt erklärt.
(Quelle: Landeschronik Niederösterreich, 2. Aufl. 1994, S. 449)