"Glaubt an dieses Österreich!"
Leopold Figls berühmte Weihnachtsansprache des Jahres 1945 gehört zu den bekanntesten und wohl berührendsten Reden der Zweiten Republik: "Ich kann euch zu Weihnachten nichts geben, kein Stück Brot, keine Kohle zum Heizen, kein Glas zum Einschneiden. Wir haben nichts. Ich kann euch nur bitten: Glaubt an dieses Österreich."
Stärker als so manche Bilder, können diese Worte das Jahresende 1945 vermitteln: zerbombte Städte, Armut und Verzweiflung - besonders den späteren Generationen, die dieses Lebensgefühl in keinster Weise kennen.
Nur im ersten Moment mag es daher enttäuschend sein, dass diese Rede tatsächlich erst 20 Jahre später aufgenommen wurde, im April 1965, drei Wochen vor Figls Tod. Damals hatte Hans Magenschab als Generalsekretär der Katholischen Verbände anlässlich des 20. Jahrestages des Kriegsendes am Stephansplatz eine effektvoll inszenierte Show - mit Lichtspielen, Tondokumenten, Heulen der Flugzeuge - geplant. Aus einem Lautsprecher sollte eine Ansprache Figls aus dem Jahr 1945 zu hören sein. Allerdings gab es weder Tondokumente noch Manuskripte aus der Zeit. Nach umfangreichen Recherchen in Zeitungen, Büchern, Parteibroschüren sowie einer frühen Figl-Biografie verfasste Magenschab, inzwischen bestens vertraut mit Wortwahl und Tonfall Figls, eine Rede. Sein Freund, der spätere ORF-Intendant Ernst Wolfram Marboe, ein Großneffe Figls, organisierte die Aufnahme mit Leopold Figl im Funkhaus in der Wiener Argentinierstraße. Er las den Magenschab-Text vom Blatt – es sollte sein letzter Auftritt vor dem Mikrofon sein. Leopold Figl hat sich mit dieser Rede identifiziert und sie somit gleichsam im Nachhinein autorisiert. Als die Aufnahme am Stephansplatz durch den Lautsprecher drang, brachen unzählige TeilnehmerInnen in Tränen aus, auch Figl selbst.
Diese Rede ist nicht authentisch, sondern eigentlich eine "Fälschung", wie es zahllose Fälschungen in der Geschichte gibt. Und doch ist sie "wahr", nicht nur, weil Leopold Figl 1945 wohl Ähnliches gesagt hat, sonst hätte er sie nicht zwanzig Jahre später vorgelesen, sondern weil diese Worte in einmaliger Weise die Erfahrungen von "Weihnachten 1945" enthalten.
Ob es die Rede Leopold Figls ist oder die fast 1000 Jahre ältere Gründungsurkunde von Göttweig oder die Erzählung vom sagenhaften Anfang der Kuenringer, um nur zwei weitere prominente niederösterreichische Geschichtsfälschungen zu nennen, sie alle verdichten Erlebtes und Erinnertes auf wenige Worte: auf eine Urkunde, eine Erzählung oder eben eine Rede. Die im Rückblick entstandenen "Fälschungen" haben etwas gemeinsam: Sie enthalten die Erinnerung einer Gemeinschaft, sei es eines Klosters, eines Adelsgeschlechts oder eines ganzen Landes. In der Rede Leopold Figls wird daher nicht nur Weihnachten 1945 greifbar, sondern auch österreichische Identität, für die das Jahr 1945 Ende und Anfang wurde.
Es gibt nicht wenige Zeitzeugen, die überzeugt sind, genau diese Worte Figls 1945 aus dem Radio gehört zu haben - einfach weil sie wahr sind.