Die "Denkwürdigkeiten" der Helene Kottannerin
Helene Kottanner gehörte seit 1436 zum Hof Herzog/König Albrechts V./II. und seiner Gemahlin Elisabeth von Ungarn als Erzieherin ihrer kleinen Tochter Elisabeth. Sie reiste 1439 im Gefolge des Hofes nach Ungarn, wo sie die Thronfolgeauseinandersetzungen nach dem Tod Albrechts II. miterlebte. Ihre "Denkwürdigkeiten" über ihren abenteuerlichen Raub der Stephanskrone aus den schwerbewachten Gewölben der Plintenburg (Visegrád) sind ein außergewöhnliches Zeugnis mittelalterlicher Geschichtsschreibung und die ältesten deutschsprachigen Frauenmemoiren. Spannend und detailreich erzählt sie in diesem Zusammenhang von der Geburt und den ersten Lebensmonaten des neugeborenen Ladislaus, den sie betreute.
Die "Denkwürdigkeiten" sind in einer einzigen Papierhandschrift (ÖNB 2920) aus der Mitte des 15. Jahrhunderts überliefert, vermutlich eine von Helene Kottanner diktierte Niederschrift oder eine Abschrift nach einer Vorlage, die erst im 19. Jahrhundert (1834) in der Hofbibliothek entdeckt wurde. Nach 400 Jahren konnten nun die Vorgänge um den Kronenraum erklärt werden. Bis dahin war für dessen Gelingen keine wirklich befriedigende Erklärung gefunden worden. Der Bericht setzt mit ihrem Eintreffen im Frühjahr 1439 in Ungarn ein und berichtet sehr ausführlich über die Ereignisse nach dem Tod König Albrechts II. (27.10.1439), der in Ungarn unerwartet an der Ruhr starb und nur zwei Töchter und ein ungeborenes Kind hinterließ. Als Erzieherin der Königskinder und Vertraute der Königin erlebte sie die Auseinandersetzungen um den ungarischen Thron aus nächster Nähe mit und schildert sie lebendig und voll von realistischen Einzelheiten. Sie berichtet aus der Sicht des Hofes, der den Standpunkt des Erbrechtes vertrat, im Gegensatz zu der Mehrheit der ungarischen Adeligen, die für den von ihnen gewählten Polenkönig eintrat. Stützen der Königin waren vor allem der mit ihr verwandte Graf Ulrich II. von Cilli sowie Ulrich von Eitzing - jene zwei Männer, die über ein Jahrzehnt später für die Regierung des jungen Ladislaus (1452-1457) eine entscheidende Rolle spielen sollten.
Erzählerisches Zentrum der "Denkwürdigkeiten" bildet der Kronenraub mit Hilfe eines ungarischen Adeligen, den die Kottannerin durch die Frauengemächer, vorbei an den schlafenden Hofdamen, zum Schatzgewölbe der Plintenburg führte, die Fahrt mit der in einem Polster versteckten Krone im Schlitten in das 70 km entfernte Komorn, bei der das Eis der zugefrorenen Donau unter einem der Schlitten brach. Wertvollen Aufschluss über weiblichen Alltag geben ihre Schilderung von der Geburt des erhofften Thronerben, der Taufe, dem Wochenbett der Königin und der Betreuung des Neugeborenen, die ihr oblag. Während der Krönungsfeierlichkeiten in Stuhlweißenburg (15.5.) trug sie den drei Monate alten Ladislaus auf den Armen. Ihre Schilderung des Zeremoniells ist der älteste ausführliche Augenzeugenbericht einer ungarischen Krönung. Das Eintreffen Wladislaws von Polen in Ungarn, der immer breitere Unterstützung fand, zwang die Parteigänger der Königin zur Flucht. Helene Kottanner begleitete Ladislaus in das unter dem Schutz Ulrichs von Cilli stehende Ödenburg. Mit ihrer dortigen Ankunft brechen die Memoiren ab, der überlieferte Text ist daher fragmentarisch.
Helene Kottanners lebensgefährlicher Einsatz für die Königsfamilie führte zunächst nicht zum erhofften politischen Erfolg. Wladislaw von Polen wurde mit einer Ersatzkrone gekrönt und die Säuglingskrönung für ungültig erklärt. Ladislaus wurde erst zwölf Jahre später nach seiner Entlassung aus der Vormundschaft Kaiser Friedrichs III. als König von Ungarn anerkannt.